Das Christkind

Bald würde die Schulglocke läuten. Elisa stand in der Garderobe und bewunderte den bunten Weihnachtsschmuck. „Ich freu mich schon so auf das Christkind!“, rief sie voller Freude aus. „Was, du glaubst noch an das Christkind?“, fragte Hannah spöttisch. „Das gibt es doch gar nicht!“ „Gibt es wohl!“, erwiderte Elisa empört. Sie griff nach der Hand einer Pädagogin, die gerade vorbeieilen wollte und fragte eindringlich: „Du, sag! Gibt es das Christkind?“ Elisas Augen leuchteten und ihr Gesichtchen war bittend.

„Ich hab noch nie eines gesehen“, antwortete die Pädagogin voller Verstand, bevor sie davonhastete.
Da umschatteten Zweifel die kindliche Vorfreude. So leicht wollte Elisa jedoch noch nicht aufgeben. Sie fragte die Oma vom Lukas, die gerade seelenruhig beobachtete, wie die Kinder umhertollten. Die Oma vom Lukas strahlte Liebe und Güte aus. Sie würde gewiss nicht ärgerlich werden. „Du, sag mir, gibt es das Christkind in echt?“, fragte Elisa leise und zupfte am Ärmel der alten Frau. „Ja, natürlich!“, antwortete die Oma vom Lukas mit einem geheimnisvollen und freundlichen Lächeln. „Und wurde es in einem Stall geboren?“ „Ja, dort auch.“ Elisa schaute die Oma vom Lukas verwundert an. „Aber warum denn im Stall? Und… gibt es denn zwei Christkinder?“ fragte sie zögerlich. Die Oma vom Lukas lachte. „Nein, es gibt eins. Das Christkind ist. Immer da.“ Nun war Elisa verwirrt. „Und warum kann ich es dann nicht sehen?“ „Kannst du deinen Geist, deine Seele sehen?“, fragte die Oma vom Lukas. Elisa schüttelte energisch den Kopf. „Und glaubst du, dass du beseelt und vom Geist erfüllt bist?“ Elisa nickte. Das wusste sie ganz sicher. Mama und Papa hatten ihr von ihrer unsterblichen Seele erzählt.
„Dort im Stall, zwischen Ochs und Esel, behütet von Maria und Josef, leuchtet das Christkind voller Freude. Still und unerkannt, vergnügt und zufrieden.“
„Aber die Hirten haben es erkannt…“
„Ja, für einen Moment haben sie das gütige und liebevolle Antlitz des Christkinds geschaut und das Licht und die Freude haben ihre Herzen erwärmt“, sprach die Oma vom Lukas etwas wehmütig.
„Aber, warum sagt Hannah, es gibt kein Christkind?“ , fragte Elisa.
„Weil wir Menschen das Christkind am falschen Ort suchen. Es ist. In jedem Augenblick. Wären wir nicht blind und taub, könnten wir es fühlen.“ Elisa verstand nicht, was die Oma vom Lukas meinte. Sie fragte nochmals: „Du, Oma vom Lukas, bitte sag mir, wie kann ich das Christkind sehen?“
Die Oma vom Lukas lächelte und strich Elisa sanft übers Haar: „Das Christkind schläft in jedem von uns und möchte geweckt werden. Du kannst es spüren. Es lässt dich leuchten und bringt Freude und Frieden in dein Herz. Am schönsten und wärmsten strahlt das Licht in der Ruhe der Dunkelheit.“
Elisa hatte nicht alles verstanden, aber sie war sich jetzt ganz sicher, dass das Christkind am Heiligabend da sein würde. Denn sie erinnerte sich noch genau an das Strahlen ihrer Mama im Vorjahr. Und wie schön sie gemeinsam gesungen hatten. Da musste das Christkind wach und bei ihnen gewesen sein. Sie würde ganz still und aufmerksam sein, um es dieses Jahr spüren zu können. Die Schulglocke läutete. Elisa drehte sich um und winkte der Oma vom Lukas nochmals zu, ehe sie mit beschwingten Schritten in der Klasse verschwand. Vielleicht gelang es ihr ja schon vor dem 24. Dezember, das Christkind aufzuwecken. Dann könnte es länger da sein…